Teil 3 - Was ist Gender Medizin? - Kardiologie, Körpergewicht, Krebs, Depression & Medikamente

03.07.2018
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Gendermedizinische Ansätze in der Medizin

Da die Hormone einen wesentlichen Einfluss auf Krankheitsentstehung und -progression haben, ist die Endokrinologie die ideale Grundlage für alle Bereiche der Gendermedizin; auch der fächerübergreifende Ansatz und die Interdisziplinarität kommen hier zum Tragen.

Der Glukose- und Fettstoffwechsel sowie der Energiehaushalt unterscheiden sich bei gesunden Frauen und Männern und besonders auch bei verschiedenen Störungen wie Adipositas und Diabetes.

Ein Modell der praktischen Umsetzung bei Frauen ermöglichen Frauengesundheitszentren sowie das Frauengesundheitsressort la pura (www.lapura.at), das in Kooperation mit der Medizinischen Universität Wien – basierend auf neuesten Erkenntnissen der Gendermedizin – innovative Konzepte für frauenspezifische Prävention und Gesundheitsprobleme anbietet.

Kardiologie

In der Beobachtung von Herzkrankheiten hat die Gendermedizin ihren Ausgang genommen. Die Gefäße junger Frauen werden durch das Hormon Östrogen geschützt. Kardiologische Erkrankungen weisen andere Entwicklungen und andere Symptome auf: Bei einem Herzinfarkt sind weibliche Patienten im Schnitt 10 Jahre älter als männliche. Ihre Schmerzen sind oft unspezifisch, vegetativ. Brustschmerzen stehen dabei nicht so im Vordergrund, daher wird ein Herzinfarkt oft nicht erkannt.

In der Medizin spricht man vom „Yentl-Syndrom“, basierend auf dem gleichnamigen Film mit Barbra Streisand, indem sich eine Frau als Mann ausgeben muss, um studieren zu dürfen. Die amerikanische Ärztin Bernadine Healy beschrieb dieses „Yentl-Syndrom” (auch: Yentl-Effekt) bereits 1991: Eine Frau muss sich in die Symptome des männlichen Herzinfarkts kleiden, damit sie Chancen hat, eine gute Behandlung zu bekommen.

Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Frauen sind oft still und fatal:

  • Frauen haben ein 50% höheres Sterberisiko im ersten Jahr nach einem Herzinfarkt
  • ein zweifach höheres Risiko, nach Bypass-Operationen Komplikationen zu bekommen
  • die Mortalität steigt bei Frauen unter 55 Jahren (hat in den letzten Jahren zugenommen)
  • Frauen haben oft keinen Brustschmerz
  • oft sind kleinste Gefäße betroffen

Auch Schlaganfall-Risikofaktoren werden bei Frauen nicht so gut erkannt. Während bei Männern eine halbseitige Lähmung das typische Symptom ist, treten bei Frauen öfter Schwindel, Verwirrtheit und Sprachstörungen auf.

Frauen und Körpergewicht

Gewichtsprobleme sind keine Frauensache. Sie betreffen beide Geschlechter gleichermaßen, aber Männer nehmen sie meist nicht so wahr, empfinden sie nicht als Problem. Frauen sind in Sachen Übergewicht überrepräsentiert – unter anderem, weil sie aufgrund der überschüssigen Kilos häufiger einen Arzt aufsuchen. Sie kümmern sich generell mehr um gesundheitliche Belange, achten eher auf gesunde Ernährung, rauchen und trinken (derzeit noch) weniger als Männer. 80% der Patienten, die aufgrund eines Figurproblems zum Arzt gehen, sind Frauen. Bei Studien zum Thema verhält es sich ähnlich: 80% derer, die sich freiwillig zur Studienteilnahme melden, sind weiblich. Auch Über-, Untergewicht und Essstörungen wie Bulimie, Magersucht oder Binge-Eating (das Vollstopfen mit Unmengen an Nahrung ohne Erbrechen) sind große Themen bei Frauen.

Die Statistik spricht hier eine deutliche Sprache:

  • Viele Frauen sind mit ihrem Gewicht bzw. ihrer Figur unzufrieden.
  • Sie machen schon als Teenager Bekanntschaft mit Diäten.
  • Frauen machen 80% aller Patienten mit einer Magenbypass-Operation aus.
  • Vor allem ab der Menopause haben Frauen mit steigendem Gewicht zu kämpfen.
  • Viele Frauen nutzen Zigaretten, um ihren Appetit zu unterdrücken.
  • Übergewicht kommt bei Frauen selten allein. Sie haben zusätzlich mit hormonellen Disbalancen und mit psychischen Problemen zu kämpfen.Gendermedizin und Diabetes
  • Ob jemand unter Übergewicht leidet oder nicht, hängt unter anderem mit dem jeweiligen sozialen Status und der Bildung ab. Der Beruf spielt ebenso eine Rolle.
  1. Östrogen:
    Männer haben biologisch ein grundsätzlich höheres Risiko, an Diabetes mellitus zu erkranken, Frauen sind unter anderem durch die erhöhte Ausschüttung des Hormons Östrogen lange „geschützt“ – bis es in der Menopause zu einer hormonellen Umstellung kommt und dieser Schutz abflaut.

  2. Fettverteilung:
    Das Risiko für Männer ist zumeist auch erhöht, weil sie mehr Bauchfett und mehr Leberfett haben und eine niedrigere Insulinempfindlichkeit aufweisen, selbst dann, wenn sie nicht übergewichtig sind. Dagegen wurde gezeigt, dass das Fett an den Oberschenkeln, das bei den Frauen genetisch und Östrogen-bedingt häufiger vorkommt, sogar schützend wirken kann. Andererseits hat bei Frauen der Bauchumfang eine bessere Diabetes-Voraussagekraft als bei Männern.

  3. Testosteron:
    Das männliche Sexualhormon Testosteron wirkt bei Männern und Frauen ebenfalls unterschiedlich: Für Männer stellt Testosteronmangel einen Risikofaktor dar, während bei Frauen höhere männliche Sexualhormone mit einem höheren Risiko einhergehen.

  4. Stress:
    Bei Frauen führen psychosozialer Stress, Stress im Job, mangelnde Entscheidungsfreiheit bei großem Arbeitsdruck und Schlafmangel häufiger zu Diabetes als bei Männern. Oft auch verstärkt durch stressbedingte Gewichtszunahme.

  5. Biomarker:
    Bei Biomarkern, die helfen können, frühzeitig das Diabetes-Risiko zu erkennen, gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede: So sind das von der Leber gebildete Protein Fetuin-A sowie Copeptin (ein im Hypothalamus gebildetes Prohormon), und Proneurotensin (ein Neurotransmitter) vielversprechende Biomarker bei Frauen, aber nicht bei Männern. Hier gilt das Hormon Leptin, das chemische Botschaften aussendet, das Essen einzustellen und Energie aus den Speichern, etwa Fettdepots, zu gewinnen, als starker Biomarker.

 Gender und Krebs

Die häufigsten Krebsarten sind bei Männern Prostatakarzinome, während bei Frauen der Brustkrebs am stärksten vertreten ist. Es gibt allerdings auch Männer, die an Brustkrebs erkranken – zwar selten, doch Betroffene haben sehr schlechte Prognosen. Schuld daran ist eine Art „umgekehrtes Yentl-Syndrom” (siehe oben): Man denkt bei den Untersuchungen kaum daran, dass Männer Brustkrebs entwickeln können, daher wird dieser übersehen bzw. erst in sehr spätem Stadium diagnostiziert.

Lungenkrebs geht bei Männern zurück, bei Frauen verzeichnet er einen deutlichen Anstieg. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Es gibt mehr und mehr Raucherinnen.

Bei Darmkrebs zeigen Studien, dass die Häufigkeit bei beiden Geschlechtern etwa gleich (bei Männern etwas häufiger) ist, allerdings erkranken Frauen im Schnitt zehn Jahre später als Männer. Ein Darmkrebs-Screening (Darmspiegelung) wird allgemein ab dem 50. Lebensjahr empfohlen. Gendermedizinische Erkenntnisse legen nun nahe, dass das für Männer zu spät ist. Besser wäre ein Screening ab dem 45. Lebensjahr, bei Frauen ist möglicherweise ein Screening ab dem 55. Lebensjahr ausreichend.

Gender und Depression

Depression, eines der führenden Gesundheitsprobleme (WHO), wird bei Frauen doppelt so häufig diagnostiziert. Das beginnt bereits in der Pubertät (ab 13) und reicht bis ins hohe Alter. Geschlechterrollen, Stress (tw. ebenfalls genderspezifisch), körperliche Zusatzerkrankungen und negative Lebenserfahrung gelten hier als Risikofaktoren.

Allerdings: Zwei- bis dreimal so viele Männer begehen Selbstmord. Das legt nahe, dass es viele undiagnostizierte Depressionen bei Männern gibt. (Denn 30-70% der Suizide treten während einer depressiven Episode auf.)

Männliche Depression („Male Depression”) weist andere Leitsymptome auf als gemeinhin mit Depression assoziiert werden. So finden sich bei Männern oft:

  • erhöhte Risikobereitschaft
  • Wutattacken/Wutaktionen
  • geringe Inpulskontrolle
  • geringe Stresstoleranz
  • Irritierbarkeit, Unruhe, Unzufriedenheit
  • Ausagieren

Für Frauen sind Depressionen besonders in Zusammenhang mit einer Herzkrankheit gefährlich. Die Kombination führt zu einem fast dreifach höherem Sterberisiko.

Gender und Medikamente

Frauen und Männer erhalten oft dieselben Medikamente in gleicher Dosierung. Was dabei nicht berücksichtigt wird, sind die deutlichen Unterschiede im Stoffwechsel sowie in der Zell- und Hormonstruktur der beiden Geschlechter. Hier ist noch viel Forschungsarbeit vonnöten.

Dass in Studien meistens der Mann als medizinischer Prototyp herangezogen wird, hat Konsequenzen:

  • Die meisten vom Markt genommenen Medikamente bedeuteten ein größeres Gesundheitsrisiko für Frauen.
  • Frauen sind in den frühen Phasen klinischer Studien unterrepräsentiert.
  • Es findet keine effektive Kontrolle geschlechtsspezifischer Mechanismen in der Medikamentenentwicklung statt.

Die unterschiedliche Wirkung von Medikamenten auf Männer und Frauen wird oft beobachtet, die Gründe dafür sind noch nicht ausreichend bekannt. Einerseits spielen biologische Faktoren eine Rolle, andererseits auch soziale: Werden Frauen von Ärzten andere Medikamente verschrieben als Männern? Gibt es Wechselwirkungen mit der Ernährung? (Beispiel: Grapefruit ist bekannt für Wechselwirkungen mit Medikamenten, wird wesentlich öfter von Frauen konsumiert.) Wie sieht es mit der Therapietreue aus? Gibt es Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten? Gerade ältere Frauen nehmen oft sehr viele Arzneien ein…

Generell werden Männern häufiger Medikamente für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes verschrieben, Frauen dafür wesentlich mehr Schmerzmittel, Psychopharmaka und Schlafmittel. Nebenwirkungen treten bei Frauen viel häufiger auf – in jeder Altersgruppe.

Klassische Beispiele für den Einfluss von Geschlecht auf Medikamente:

  • Aspirin: schützt Männer eher vor Herzinfarkt, Frauen hingegen vor Schlaganfällen
  • Blutdrucksenker: wirken bei Frauen stärker, haben aber auch ausgeprägtere Nebenwirkungen
  • QT-verlängernde Medikamente: höheres Risiko für Frauen, deren QT-Abstand von vornherein länger ist; es können gefährliche Arrhythmien entstehen

Bislang gibt es ein einziges Medikament, für das die amerikanische Arzneimittelbehörde (FDA) tatsächlich unterschiedliche Einnahmen vorschreibt: Das Schlafmittel Zolpidem soll Frauen nur noch in halber Dosis verschrieben werden (5mg statt den bisherigen 10mg).

Fazit: Die Gendermedizin stellt einen wichtigen Schritt in Richtung personalisierte Medizin dar. Von geschlechtersensibler Vorsorge und Therapie profitieren beide Geschlechter gleichermaßen. Geschlechteraspekte müssen daher in Forschung und Lehre gefördert werden – und in die Praxis mit einfließen!

Die Autorin Frau Prof. Dr. med. Alexandra Kautzky-Willer, MedUni Wien ist die wissenschaftliche Leiterin des Instituts für Gendermedizin in Gars am Kamp, einer Gesundheitseinrichtung der VAMED in Kooperation mit der MedUni Wien.

 

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