Essstörungen

23.07.2018
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Der Kampf mit dem täglichen Brot!

Ob viel zu viel oder erschreckend wenig - Essen kann krank machen. Wer seine Essstörung allein nicht bezwingt, bekommt in einer Klinik wie in Eggenburg Hilfe. Die SN haben sich umgesehen und eine Therapieeinheit besucht.

Im Vortragsraum des Psychosomatischen Zentrums Waldviertel in Eggenburg, Niederösterreich, sind einige Stühle auffallend breiter als die anderen. Zehn schwer übergewichtige Menschen nehmen darauf Platz. Zwei von ihnen sind Männer. Auf zehn Sesseln herkömmlicher Breite sitzen Frauen mit Untergewicht. Was diese 20 Menschen gemeinsam haben: Sie nehmen an der Filmtherapie teil.

Diese ist ein Schritt in ihrem Heilungsprozess. Sie alle sind zwischen 25 und 50 Jahre alt und leiden an Essstörungen - Adipositas (Fettsucht), Anorexie (Magersucht), Bulimie (Ess-Brech-Sucht), Binge Eating-Disorder (Essattacken) – in Kombination mit psychischen Störungen. Viele von ihnen haben Erfahrung mit seelischem und sexuellem Missbrauch. Sie sind schwerst krank.

Acht Wochen bleiben die Patienten stationär in Eggenburg zur Therapie. Die Wartezeit auf einen der 20 Plätze beträgt ein Jahr. "Für Menschen, die zum Beispiel Adipositas und eine psychische Störung aufweisen, gibt es im Land nicht viele Einrichtungen oder auch nur annähernd genug Betten", sagt Primär Fritz Riffer, der Ärztliche Direktor.

Die Klinik in Eggenburg besteht seit 2006, kürzlich wurde umgebaut. Das Ziel in dem lichtdurchfluteten Haus ist, die Patienten ein gutes Stück auf dem Weg zur Heilung zu begleiten. Dazu tragen die Therapien bei. Abnehmklinik sei man nämlich keine, betont der Primär.

Wie viele Österreicherinnen und Österreicher von welcher Essstörung betroffen seien, sei schwer festzumachen, klagt Riffer. "Wir haben keine konkreten Gesamtzahlen." Ein Teil der Arbeit in der Klinik sei daher die Forschung, um an allgemein gültige Daten zu kommen. Bei der Männergesundheitstagung in Wien wurde Mitte Juni geschätzt, dass rund 55 Prozent aller Männer im Land von Adipositas betroffen sind, bei den Frauen liegt der Anteil immerhin bei 39 Prozent. Im April hieß es bei der Kinder Gesundheitswoche in Wien, dass etwa ein Viertel der Jugendlichen übergewichtig sei - Tendenz steigend. Jedes fünfte Mädchen zwischen elf und 13 Jahren zeige Hinweise auf eine Essstörung, sagte Christina Tretter, Fachärztin für Psychiatrie, im Mai bei einer Veranstaltung des Wissenschaftsfonds FWF. 30 Prozent aller Zehnjährigen hätten bereits Erfahrung mit Diäten. Sie betonte, dass Essen stark mit Emotionen Zusammenhänge. Wer traurig, wütend oder besonders zufrieden sei, greife oft als Trost oder Belohnung auf Essen zurück.

Im Vortragsraum in Eggenburg zieht indessen Psychotherapeutin Brigitte Fellinger die Vorhänge zu. Im Saal wird es dunkel. Durch die Reihen ihrer Patienten geht sie nach vom zum Laptop und startet mit einem Mausklick den Film, den sie zeigen will. "Hidden Figures – Unerkannte Heldinnen" lautet der Titel. "Wem der Inhalt zu belastend ist, der kann auch hinausgehen", bietet Fellinger ihren Patienten an. Keiner geht.

Auf der Leinwand bahnen sich drei afroamerikanische Frauen im Jahr 1961 ihren Karriereweg durch die männerdominierte Raumfahrtorganisation NASA. Kevin Costner spielt mit, er fällt den Damen sofort auf. Knapp mehr als zwei Stunden dauert das Werk aus Hollywood. Danach stehen die Zuschauer auf und rücken ihre Sessel zurecht, bis sie in einem Kreis stehen. Fellinger sitzt mitten unter ihnen und stellt viele Fragen zu Kameraführung, Schnitt und Beleuchtung, aber auch zu den Hauptdarstellern, den Gefühlen und Werten, die sie zeigen und vertreten.

Reihum sagen die Frauen und Männer, was sie beim Filmschauen beeindruckt oder bedrückt hat. Schnell hat diese Therapieform ihr Ziel erreicht: Es dauert nicht lang, bis Parallelen zum eigenen Leben gezogen werden. "Die im Film haben ihre Träume verwirklicht. Das ist mir im Leben auch schon ein paar Mal gelungen", sagt eine übergewichtige Frau um die 50, blickt auf ihre Schuhspitzen und zupft ihr türkisfarbenes T-Shirt zurecht.

Eine andere gibt zu bedenken, dass es doch nur in Filmen – wie auch in diesem - ein Happy End gebe. "Das ist doch ganz anders als im echten Leben." Fellinger gibt der zierlichen Frau recht. Und sagt ihr, dass man sich trotzdem Gutes aus der erzählten Geschichte mitnehmen könne. Nicken in der Runde.

In der Klinik ist Brigitte Fellinger bekannt für ihre einfallsreichen Therapiemethoden. Das attestiert ihr der Chef, Fritz Riffer, und spricht auch den Therapiehund seiner Kollegin an. Das Tier, ein kurzhaariger Ungarischer Vorstehhund, darf gelegentlich mit zu den Patienten kommen. Geza heißt er. Das freundliche Wedeln und seine wachen Augen wecken selbst bei denen Vertrauen, die noch nie mit Haustieren zu tun hatten und Zutraulichkeit oder Zärtlichkeit nicht unbedingt kennen. Riffer berichtet, dass viele Patienten Opfer von Missbrauch waren -nicht nur von sexuellem. "Dass man sich regelrecht einen Panzer anfressen will, um den Attacken zu entgehen, ist nachvollziehbar", sagt der Primär und erklärt, dass auch Lebensmittel ein Werkzeug für Missbrauch sein können. "Essen wird nicht selten als Gewaltmittel eingesetzt - zum Beispiel, wenn Eltern ihre angeblich ungezogenen Kinder systematisch ohne Abendessen ins Bett schicken. Oder wenn sie Kinder als Strafe zwingen, so viel zu essen, bis sie sich übergeben müssen."

Um Über- und Untergewichtigen einen guten, gesunden Zugang zum Essen zu eröffnen, gibt es in der Klinik in Eggenburg eine Lehrküche. Ein Mal die Woche wird gemeinsam gekocht und gegessen. Ob das nicht für Zündstoff sorgt? "Früher haben Hochadipöse und Anorektische das getrennt gemacht. Wir finden es heute gut, sie zu mischen. Wir glauben, dass die Menschen aneinander lernen, wenn die Situation gut eingebettet ist", sagt Riffer. Letztendlich gehe es beim Zusammentreffen aller nur mehr darum, ob jemand sympathisch sei oder nicht – und nicht, ob man dick oder dünn sei.

Filmtherapie und ein Hund gegen Essstörung

Gedanken um ihr Aussehen machen sich manche Patienten ohnehin genug. "Starkes Über- oder Untergewicht ist in der westlichen Welt ein Ausdruck der gesellschaftlichen Entwicklung. Einerseits sind hochkalorische Nahrungsmittel an fast jeder Ecke erhältlich. Aber wir sind in den vergangenen Jahren auch ich-zentrierter geworden, viele hetzen Schönheitsidealen hinterher und glauben Model-Shows im Fernsehen, die sagen, wie junge Menschen auszusehen haben", kritisiert Riffer. "Patientinnen berichten mir von Anleitungen aus dem Internet, mit denen es gelingen kann, sich zu Tode zu hungern", ergänzt Fellinger mit besorgtem Blick. Sie kenne Frauen, die sich mit 35 Kilogramm Körpergewicht noch zu dick fänden, und Übergewichtige, die aus Scham über ihr Aussehen die Spiegel in ihrem Zimmer abklebten.

Doch was sollen Familien und Freunde machen, wenn sie bemerken, dass jemand in ihrem Kreis ein krankhaftes Essverhalten an den Tag legt? Ansprechen ist in jedem Fall erlaubt. Jemanden zum Ab- oder Zunehmen zu zwingen funktioniert jedoch nicht, darin sind sich Riffer und Fellinger einig. Besser sei, immer wieder die Sorge um den Betroffenen zu äußern. "Das erhöht die Chance, ihn in einem günstigen Augenblick anzusprechen, in dem er sensibel und vielleicht auch offen für einen Weg zur Heilung ist", sagt der Primär. Was Heilung bedeutet? "Dass ein Mensch so sein und leben kann, wie er will. Ganz frei von Beeinträchtigungen." Gute Beziehungen und eine Distanz zu schädlichen Einflüssen könnten dazu beitragen.

Bevor der Sesselkreis im Vortragsraum der Klinik Eggenburg aufgelöst wird, ergreift Fritz Riffer das Wort. Er war als stiller Gast bei Fellingers Filmtherapie dabei. "Sie haben sich mit der Frage auseinander gesetzt, was Sie in Ihrem Leben geschafft haben. Einen großen Punkt kann ich Ihnen verraten. Sie haben es geschafft, sich hier anzumelden und sich mit ihren Themen auseinanderzusetzen", lobt er die Runde aus 18 Frauen und zwei Männern, die sich daraufhin offensichtlich zufrieden und bestärkt auf den Weg in den Speisesaal zu ihrem Mittagessen machen.

Der Autor Psychiater Prim. Dr. Friedrich Riffer ist Ärztlicher Leiter am Psychosomatischen Zentrum Eggenburg-Gars, einer Gesundheitseinrichtung der VAMED.
Quelle: Dieser Artikel ist am 28. Juni 2018 in den Salzburger Nachrichten erschienen.

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